Ein Auszug aus dem Editorial von Elisabeth von Haebler und Friedrich von Borries:
Hochstapler*innen gab es schon immer. Menschen, die vorgetäuscht haben, jemand zu sein, der oder die sie nicht waren, über Fähig- oder Fertigkeiten zu verfügen, die sie nicht beherrschten. Aber was erzählt das Phänomen der »Hochstapelei« über die Gesellschaft, in der er auftaucht? Welche Form von Hochstapelei fördert der Kapitalismus, in dem wir uns andauernd präsentieren, vermarkten, verkaufen müssen – und uns deshalb als schöner, erfolgreicher, bedeutsamer darstellen, als wir sind?
Die Pflicht zur Selbstdarstellung
Der Amerikaner Dale Carnegie bot ab den 1910er Jahren Kurse
in positivem Denken, Rhetorik und Selbstdarstellung an. Er hatte – lange vor Facebook, Instagram, LinkedIn und Co – erkannt, dass im gegenwärtigen Kapitalismus alle Menschen zu Selbstdarstellern und Selbstverkäufern werden. Boris Groys spricht deshalb davon, dass wir alle eine »Pflicht zum Selbstdesign« hätten. In einer Gesellschaft, die alles vermarktet, müssen wir uns beständig weiterentwickeln, optimieren und die Ergebnisse dieses Selbstverbesserungsprozesses nach außen darstellen.
Von der Selbstdarstellung zum Betrug
Nun ist Selbstdesign, Selbstdarstellung und Selbstverkauf noch keine
Hochstapelei. Denn erstens ist Hochstapelei Betrug. Das, was verkauft wird, entspricht nicht dem, was dargestellt wird: das Kunstwerk wurde nicht von der berühmten Künstlerin gemalt, die als Urheberin ausgegeben ist; die Ärztin hat nicht Medizin studiert; die ausgezahlte Dividende stammt nicht aus dem versprochenen Gewinn des Unternehmens, sondern aus den Einlagen anderer Anleger*innen. Diese Form von Betrug ist in vielen Fällen strafbar, in vielen auch nicht. Jede*r kennt die Mogelpackung, die einen größeren Inhalt vorgibt, als sich tatsächlich darin befindet. Aber erlaubt sind 30% (heiße) Luft, erst danach beginnt der Betrug. Es kommt, so scheinte es, auf den Grad der Abweichung an. Ein leicht frisierter Lebenslauf und die Verwendung von Instagram-Filtern kommen in den besten Familien vor – man darf es halt nicht übertreiben. Doch die Grenzen zwischen geschönter Selbstdarstellung und echter Hochstapelei sind fließend. Nehmen wir zum Beispiel den Immobilien- oder den Aktienmarkt: Natürlich gibt es bei allen Beteiligten die Erwartung, dass ein Investment eine hohe Gewinnsteigerung mit sich bringt, und diese Erwartungshaltung schafft den Nährboden für das Spannungsfeld zwischen (erlaubter) Schönmalerei und (verbotener) Hochstapelei.
Hochstapelei als Kunstform
Mit der Schönmalerei wären wir bei der Kunst angekommen. Kunst ist besonders anfällig für Hochstapelei. Die Welt der Kunst bietet eine toxische Mixtur aus hohen Renditeerwartungen, immer wieder proklamierten immateriellen Werten und Jet-Set-Allüren. Der materielle Wert eines Kunstwerkes hängt nicht von den verwendeten Materialien ab, sondern ist fiktiv, generiert sich aus der Selbstbehauptung der Künstler*in – und der Akzeptanz dieser Selbstbehauptung am Kunstmarkt. Wie also will man in einer Welt, in der nicht der materielle Wert, sondern die Einzigartigkeit der konzeptionellen Idee den Wert bestimmt, zwischen dem »wahren Wert« und der hochgestapelten Behauptung differenzieren?
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